Stadtkapelle Wangen, 29.10.2022

Ein Abend voller Emotionen – Stadtkapelle Wangen beweist erneut ihre hohe Qualität

Die Stadtkapelle Wangen überrascht immer wieder mit ihrer Werkauswahl, aber niemals mit ihrer Qualität. Seit Jahrzehnten spielt sie beständig auf europäischem Spitzen-Niveau. Auch bei ihrem Herbstkonzert am Samstag blieb die Stadtkapelle Wangen ihrem Ruf als Spitzenblasorchester nichts schuldig. Im voll besetzten Festsaal der Waldorfschule überzeugte sie unter der Leitung von Tobias Zinser ein weiteres Mal mit moderner, zeitgenössischer Blasmusik.

Zunächst setzte die Stadtkapelle den Marsch Nr. 4 aus Ludwig van Beethovens „Zur großen Wachparade“ wuchtig und schneidig in Szene.

Die sinfonische Dichtung „Die Nereiden“ des Schweizers Gotthard Odermatt (geboren 1974) ist brandneu und wurde im Mai dieses Jahres uraufgeführt. Das Stück beschreibt Meeres-Nymphen in ihrem Element: Ein betörend schönes Holzbläser-Idyll, graziös, fragil und in perfekter Balance, schwingt sich allmählich zu einer Klangfülle auf, die gänsehautverdächtig ist. Weit gespannte melodische Linien über einer differenzierten Klangstruktur ruhen in sich und sind doch voller Sehnsucht und sprengen nach mehreren Anläufen den Klangraum – eine solche Wirkung kann nur ein Blasorchester entfalten.

„The Soul of Heaven“ von Stephen Melillo (geboren 1957) stellt ein 20-stimmiges Blechbläser-Ensemble einem Blasorchester gegenüber. Es geht um Verlust und Trauer, schreibt der Komponist und spricht von der Stimme des Universums und dem Flüstern Gottes. Das Stück entwickelt sich aus einem einfachen Trommelrhythmus und einer Flötenmelodie mit indianischen Anklängen. In den einsamen Gesang mit viel Zärtlichkeit bricht das Blech-Ensemble mit spannungsgeladenen Mixturen, hektisch, grob, beinahe boshaft zweimal ein, kann sich aber nicht durchsetzen. Die emotionale Klaviatur hat der Komponist vorgegeben. Die Stadtkapelle bringt sie gekonnt zum Klingen.

Ein Solosaxofon, gespielt von Alexej Khrushchov, unterstützt von einem Jazz-Trio aus Benjamin Maucher (Klavier), Wolfgang Dennenmoser (Bass) und Fabian Fischer (Schlagzeug) bilden den Kern von Luis Serrano Alarcóns „Concertango“. Der 1972 geborene Komponist ließ sich dabei von Astor Piazzolla inspirieren, schuf aber eine ganz eigene Klangwelt. Harmonische Reibungen über einem Bass-Ostinato laden das Stück bereits zu Beginn emotional auf, das Saxofon setzt sich ruhelos und virtuos darüber, die Gegensätze steigern sich immer weiter zu einer rasanten Synthese aus traditionellen Elementen, asymmetrischen Rhythmen und modernen Klangbildern zu einer halsbrecherischen Jagd zwischen Solist und Tutti, die einfach mitreißt.

Nicht weniger mitreißend ist „Danza Sinfonica“ von James Barnes (geboren 1949). Temperamentvoll, lebenslustig, in allen Klangfarben schillernd ist es ein Paradestück für ein Blasorchester, sinnlich, ganz der spanischen Tradition verhaftet. Auch Barnes hat die klanglichen Möglichkeiten eines Blasorchesters voll ausgereizt und bei aller Tonfülle verlieh die Stadtkapelle dem Stück tänzerische Leichtigkeit und Eleganz.

In „extreme Make-Over“ von Johan de Meij (geboren 1953) verwandelt sich ein lyrisches Motiv aus der Feder von Peter I. Tschaikowski in ein modernes Werk von atemberaubender Dichte: Cluster, sich auflösende Harmonien, geblasenen Flaschen statt Holzbläser – die extremsten Formen der Verwandlung und Verfremdung lassen das Ganze immer dichter und enger, immer energiegeladener werden, bis am Ende nur noch Tschaikowskis Talent, Spannungsbögen bis zum Exzess voranzutreiben als verbindendes Element übrig bleibt – ein Stück der Superlative, schonungslos herausgespielt, kompromisslos in seiner Deutung und Ausführung.

Die Filmmusik zu „Robin Hood, König der Diebe“ von Michael Kamen (1948 bis 2003) transportiert große Gefühle, ist musikalische Charakterisierung durchaus mit einem Schuss Pathos – und natürlich dem Welthit „Everything I Do“. Auch hier schuf die Stadtkapelle ein sehr dichtes und facettenreiches Bild von Menschen und ihren Gefühlen.

Nach so viel Emotion brachten die Zugaben Entspannung: der schnittig Montana-Masch von Heinz Herrmanndörfer und – in prunkvolle, spätromantische Harmonien gewandt – das irische Volkslied „Danny Boy“.

Johannes Rahn, Schwäbische Zeitung Wangen, 3. November 2022